_ Rechtsanwältin S.C. Melanie Holthus - Presse

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Hamburger Abendblatt vom 30.06.2010: "Die Norderstedter Patientenanwältin S. C. Melanie Holthus bringt das Versagen eines Notarztes vor Gericht" von Andreas Burgmayer

S. C. Melanie Holthus kennt viele Fälle des Versagens von Medizinern. Die Norderstedterin ist Fachanwältin für Medizinrecht und hat sich mit etlichen Fällen bundesweit einen Namen gemacht. In ihrer Kanzlei an der Ulzburger Straße in Norderstedt blättert sie gemeinsam mit ihrem Mandanten, dem Hamburger Rainer Budniok, (58) in einem Gutachten zu dessen Fall, der die Frage aufwirft, wie überfordert die Ärzte in der Realität des deutschen Gesundheitssystems sind.
Ein Sachverständiger fällt in diesem Gutachten ein klares Urteil. Holthus: "Hier steht wörtlich, dass der Arzt eine Symptomatik übersehen hat, wie sie zum Kompendium eines Medizinstudenten in Vorbereitung auf das erste Staatsexamen gehöre." Ein Fehler, der Budniok fast das Leben kostete. Doch von vorn.
Die Geschichte beginnt an einem warmen Sommerabend, dem 1. Juli 2007, gegen 20 Uhr. Rainer Budniok will noch eben den Müll runter bringen. Er wohnt im vierten Stock ohne Aufzug. Er geht los, steigt die Treppen bis in den dritten Stock. Dann überkommt ihn dieses Gefühl, eine unerträgliche Enge in seiner Brust, als ob sie zu platzen drohe. Es folgt der Schmerz, stechend, krampfartig. Budniok glaubt zu wissen, was los ist: Herzinfarkt.
Keine Todesangst - also auch kein Herzinfarkt?
Er schafft es in die Wohnung zurück. Er übergibt sich, er hat Durchfall, der Schweiß bricht ihm aus, sein Kreislauf verabschiedet sich. Budniok greift zum Telefon, ruft nicht 112, sondern seine Ex-Frau an, eine Krankenschwester.
"Ich hatte nicht diese Todesangst, von denen Menschen berichten, die Herzinfarkte hatten", sagt Budniok. Die vage Hoffnung, vielleicht doch keinen Infarkt zu haben, verdrängt seine instinktive Selbst-Diagnose. Rainer Budniok ist ein zurückhaltender, sachlicher Mensch. Außerdem sportlich, schlank, ein guter Läufer und für sein Alter überdurchschnittlich fit. "Ich wollte das Ganze etwas tiefer hängen, nicht überreagieren und einen unnötigen Rettungseinsatz auslösen", sagt er.
Zusammen mit seiner Ex-Frau entscheidet er sich, den Notdienst der Kassenärztlichen Vereinigung Hamburg (KVH) anzurufen. Auf der Homepage der KVH steht: " Der vertragsärztliche Notfalldienst ist demnach nicht mit dem Rettungsdienst zu verwechseln! Unter der Nummer 228022 steht Ihnen ein allgemeinärztlicher Bereitschaftsdienst für solche Erkrankungen zur Verfügung, mit denen Sie sich in den Sprechzeiten an ihren niedergelassenen Arzt wenden würden, deren Behandlung jedoch keinen weiteren Aufschub duldet.
Der Arzt trat energisch auf und wirkte kompetent
Rainer Budniok hätte diesen Hinweis ernst nehmen müssen. Im Schatten der folgenden Ereignisse wirkt der Hinweis wie das öffentliche Eingeständnis der ärztlichen Inkompetenz.
25 Minuten nach dem Anruf ist der Notarzt da. "Mitte 40, kompetentes Auftreten, sehr energisch", sagt Budniok. Er schildert dem Arzt in seiner ruhigen, unaufgeregten Art seine Symptome und seine Befürchtung, einen Herzinfarkt erlitten zu haben. Außerdem spricht Budniok von seiner familiären Vorbelastung: Sein Vater starb an einem Herzinfarkt - mit 59 Jahren. "Der Arzt hat meine Diagnose und meine Bedenken ohne weitere Untersuchung gleich vom Tisch gewischt", sagt Budniok. Hatten Sie Todesangst, fragte der Arzt. Eigentlich nicht, sagt Budniok. Danach verfolgte der Notarzt die Diagnose Infarkt nicht weiter.
"Sie haben eine schwere Gastroenteritis. Und die Schmerzen in der Brust entstanden, weil sich ihr Magen nach oben gestülpt hat. Das kann das schon mal sein", mutmaßt der Arzt, spritzt Budniok ein krampflösendes Mittel und gibt ihm Tabletten. Außerdem eine Blanko-Einweisung für das Krankenhaus. "Wenn's nicht besser wird - gehen sie in die Klinik." Dann geht der Notarzt wieder.
Im Krankenhaus steht die Diagnose in Minuten: schwerer Herzinfarkt
Dass Rainer Budniok danach noch weitere drei Stunden bis etwa 1 Uhr morgens unter starken Brust-Schmerzen und andauerndem Erbrechen in seiner Wohnung weiter leidet, ohne einen Rettungsdienst zu rufen, wäre ohne das Urteil des Notfallmediziners nicht möglich gewesen. "Ich wollte ja keinen Herzinfarkt haben. Ich wollte dem

 

Arzt gerne glauben", sagt Budniok.
Als er schließlich gekrümmt vor Schmerzen in der Notaufnahme des Krankenhauses in Barmbek erscheint, dauert es keine fünf Minuten, bis die Diagnose schwerer Herzinfarkt steht - obwohl Budniok nichts anderes erzählt als zuvor im Gespräch mit dem Notarzt der KVH.
Es folgt eine dreistündige Operation. Zu viel Zeit ist zwischen dem Infarkt im Treppenhaus und der Ankunft in der Klinik verstrichen. Eine Hauptschlagader zum Herz von Rainer Budniok ist völlig zu. An der linken Herzhälfte sind erhebliche Teile des Gewebes durch die ausbleibende Durchblutung abgestorben und vernarbt. Die Ärzte setzen zwei sogenannte Stents, um die Durchblutung wieder in Gang zu bekommen. Durch die lange und starke Kompression des Herzens erleidet Budniok in der Folge eine Lungenentzündung. Am Tag nach der Operation ist sein Zustand für kurze Zeit kritisch. Er muss eine Woche auf die Intensivstation.
Jetzt hat Budniok Todesangst.
Zweieinhalb Jahre nach jener dramatischen Nacht will Rainer Budniok seinen Fall mit Hilfe seiner Norderstedter Anwältin noch diesen Sommer vor ein Hamburger Gericht bringen. Holthus und Budniok werden den KV-Notarzt wegen unterlassener Befunderhebung verklagen. Sie wollen ein Schmerzensgeld von mindestens 50 000 Euro von der Haftpflichtversicherung des Arztes erwirken. Außerdem die Übernahme von Kosten für die materiellen Schäden, die Budniok durch die Nichterkennung des Herzinfarktes entstanden sind.
Früher ging Rainer Budniok joggen, heute scheut er jede Anstrengung
Rainer Budniok weiß, dass ihm all das sein altes Leben nicht zurück bringen wird. Sein Schicksal ist es, mit den Folgen des zu spät erkannten Herzinfarktes zu leben. Vor jeder Anstrengung hat Budniok heute Angst. Es könnte ja wieder so weit kommen wie damals, im Juli 2007. Bewältigte er früher noch täglich lange Jogging-Strecken, so kann er heute keine 100 Meter mehr gehen, ehe er außer Atem gerät. Die Medikamente, die Budniok ein Leben lang nehmen muss, sorgen für psychische und physische Einschränkungen in seinem Privatleben. Die Beiträge für die Risiko-Lebensversicherungen, die er als Absicherung für seine Kinder abgeschlossen hat, stiegen durch den Infarkt so erheblich, dass er sie jetzt nicht mehr bezahlen kann. "Ich habe beide Kinder in der Ausbildung. Da bleibt nicht viel über", sagt Budniok. Er will sich jetzt um eine Sterbeversicherung kümmern.
Das Schlimmste aber ist dieser Gedanke: "Hätte der Arzt den Infarkt erkannt, wäre ich zwei Wochen später wieder auf den Beinen gewesen und der Schaden am Herzen wäre nicht so groß gewesen", sagt Rainer Budniok.
Die Gegenseite hat alle Forderungen "abgebügelt"
Die Versicherung der Gegenseite hat Holthus beim Versuch, einen Vergleich zu erzielen "abgebügelt". Holthus: "Die haben sich auf die einzige Argumentation zurückgezogen, die ihnen bleibt: Der Patient habe die Frage des Notarztes nach der Todesangst verneint - deswegen sei nicht von einem Infarkt auszugehen gewesen", sagt Holthus. Die Anwältin scheint sich auf den Fall zu freuen, da sie selten so gute Karten in der Hand hält. Gleichwohl könne es Jahre bis zum Urteil dauern, weil zu vermuten ist, dass die Gegenseite den Weg über die Instanzen und die Zermürbungstaktik wählen werde.
Budniok möchte verstehen, warum er Opfer geworden ist in einem Gesundheitssystem, dem er bisher voll und ganz vertraute: "Ich will erreichen, dass dieser Fall öffentlich wird, dass so etwas wie mir keinem mehr passiert." Es gehe nicht nur um das Versagen eines einzelnen Arztes, sondern auch um das eines ganzen Systems. "Der Druck auf die KV-Mediziner ist groß, vielleicht entstehen in dieser Atmosphäre diese Fehler", sagt Budniok. Die Kassenärztliche Vereinigung lehnte aufgrund des laufenden Verfahrens jede Stellungnahme ab.
Seinem Beruf kann Rainer Budniok übrigens noch nachgehen. Er ist Ergotherapeut und bringt Menschen nach psychischen Krisen oder Erkrankungen wieder auf die Beine.


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